„STÖRUNGEN“ aus globaler Sicht
Harald Wildfellner
Duarte Pacheco Pereira hatte nur einen Gedanken als er im Frühjahr des Jahres 1494 die Brücke des Duero-Fluss passierte und zu den Gebäuden der Casas del Tratado der Stadt Tordesillas hinauf blickte: der STÖRUNG der portugiesischen Expansion entschieden entgegen zu treten.
Entstanden war diese STÖRUNG durch die Fahrt des Christoph Kolumbus nach Westen, der glaubte den Seeweg nach Indien gefunden zu haben und das Land, das er betrat, im Namen der spanischen Krone in Besitz nahm. Der dienstfertige Aragonese, Papst Alexander VI, hatte in einem spanischfreundlichen Akt eine Demarkationslinie zwischen den rivalisierenden Seemächten gezogen, wogegen der portugiesische König Johann II Einspruch erhob.
Nunmehr kam man – der Papst, die spanischen Abgesandten des Königreichs Kastilien und Pereira mit seinem portugiesischen Gefolge – an diesem Ort in der kastilischen Hochebene zusammen, um zu verhandeln.
Der Geograf, Astronom und Seefahrer Pereira wurde als eloquenter Verhandlungsführer der portugiesischen Seite eingesetzt, um sicher zu stellen, dass die portugiesischen Entdeckungsreisen UNGESTÖRT nach Süden und Osten fortgesetzt werden konnten, wo doch der Erfolg der Suche eines östlichen Seeweges nach Indien – Bartolomeu Diaz sei Dank – unmittelbar vor der Tür stand. Durch die geschickte Verhandlungsführung Pereiras gelang es tatsächlich, ein annehmbares Ergebnis zu erzielen.
Von Pol zu Pol verlief die Trennlinie 1.770 km westlich der Kapverdischen Inseln, die den beiden katholischen Länder ein UNGESTÖRTES Nebeneinander der jeweiligen Handels-, Expansions- und Machtbestrebungen sichern sollte.
Am 7. Juni des Jahres 1494 wurde im Vertrag von Tordesillas die Welt aufgeteilt zwischen dem Königreich Kastilien und dem Königreich Portugal – eine Anmaßung, die historisch gesehen seinesgleichen sucht. Alles was westlich dieser Linie lag (Amerika, außer das Gebiet später „Brasilien“ genannt) wurde den Spaniern zugesprochen, alle Gebiete östlich davon (Afrika und Asien) fielen an Portugal. Dessen Herrscher nannte sich in der Folge „König von Portugal und der Algarve, Herr von Guinea und der Eroberung, der Schifffahrt und des Handels von Äthiopien, Arabien, Persien und Indiens“.
Andere europäische Staaten wurden nicht miteinbezogen und erkannten diesen Vertrag nicht an. Und völlig hinweggegangen wurde über die Interessen der Menschen und die Verhältnisse der ökologischen Lebensräume, die da „entdeckt“ und „in Besitz“ genommen und damit GESTÖRT wurden.
Doch das geschaffene vorerst geteilte (ab 1580 vereinte) Monopol auf die Herrschaft der Welt blieb nicht ungestört.
Die Störungen in der Ausbeutung der Überseegebiete wurden virulent in den Angriffen auf die spanische Silberflotte, die durch die Freibeuter der im Werden befindlichen Seemächte Holland, Großbritannien und Frankreich erfolgten.
Die Spanier schafften in den Jahren 1503 bis 1660 etwa 300 t Gold und 25.000 t Silber aus den Kolonien nach Europa. Dabei wurden nicht nur die Bodenschätze ausgebeutet. Die autochthone Bevölkerung – die sich aber zur extensiven Arbeitskraftnutzung als zu wenig robust erwies und massenhaft starb – sowie aus Afrika verschleppte Menschen schufteten als Sklaven in den Bergwerken und auf den Plantagen.
Das alles zum Wohle der europäischen Königshäuser, der Banken (besonders der italienischen, aber auch Fugger, Welser und Vöhlin aus dem deutschen Raum) und einiger Unternehmen (wie in der Folge der Vereinigten Ostindischen Companie/VOC/NL und East India Company/EIC/GB), die nicht nur die Edelmetalle und Gewürze schätzten. Zucker, Indigo, Tabak, Reis, Pelze, Holz, Getreide, Fleisch und Baumwolle als auch neue Pflanzen, wie etwa Kartoffel und Mais sollten das Wohlergehen im Abendland fördern. Der liberale Historiker Paul Kennedy, weist darauf hin, dass der Handel mit Massengütern sowie die Ankurbelung der Schiffsbauindustrie viele Menschen – vor allem Handwerker, Lieferanten, Händler und auch Versicherungsgesellschaften – in die Häfen von London, Bristol, Antwerpen Amsterdam und vielen anderen Städten zog. „In der Wirkung“, meint Kennedy, „brachte der Handel einem beträchtlichen Teil der westeuropäischen Bevölkerung – und nicht nur einer kleinen Elite – einen dauernden materiellen Nutzen aus den Gewinnen des Überseehandels.“
Die erfolgreichen STÖRUNGEN durch die Holländer (sie erbeuteten 1628 eine ganze spanische Jahressilberproduktion und finanzierten damit wiederum ihren erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier) brachten der niederländischen VOC für fast 200 Jahre eine Dominanz, die aber dann durch Etablierung des britischen Weltreichs (auch mit der EIC) in den Schatten gestellt wurde. Auch Frankreich sicherte sich bei der Verteilung der „Beute“ seinen Anteil. Festzustellen ist, dass das Zeitalter des Kolonialismus von 1492 bis 1880 aus einer Abfolge von FunktionsSTÖRUNGEN – und Versuchen diese STÖRUNGEN zu unterbinden – bestand.
Um wiederum STÖRUNGEN im größeren Ausmaß zu begegnen („Wettlauf um Afrika“) kam es 1884/85 zur sogenannten Berlinkonferenz, die auch als Beginn der Periode des Imperialismus gilt, bei der die europäischen Staaten ihre Claims in Afrikas absteckten. Die Einigung zwischen den 14 Vertragsstaaten (Deutschland, USA, Belgien, dem Osmanischen Reich, Österreich-Ungarn, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland, Spanien und Schweden-Norwegen) war für Leopold II von Belgien ein großer Triumph. Da das den Großmächten als kleinste STÖRUNG erschien, erhielt er den Kongo (der 80 Mal größer war als Belgien) als Privatbesitz, was für die dortige Bevölkerung desaströs war. Im Kongo wollte er – nach seinen Aussagen – „zum ersten Mal UNGESTÖRT herrschen“. Geschätzte 5 bis 15 Millionen AfrikanerInnen bezahlten das mit ihrem Leben. Der zur europäischen Expansion forschende Historiker Wolfgang Reinhard vermerkt: „(…) was Kolonialprofite aus Handel und Investition angeht, so waren sie sicher in vielen Fällen ansehnlich, sind aber nur ausnahmsweise Staat und Gesellschaft der Kolonialmächte direkt zugutegekommen (…), sondern wurden hauptsächlich von einzelnen Personen und Firmen gemacht.“ Welche Personen, Gruppen und Organisationen die Nutznießer und Träger der kolonialen und imperialen Expansion waren, wird seit über 200 Jahren diskutiert.
Ulrich Brand und Markus Wissen 1) führten den Begriff der imperialen Lebensweise ein, der diesen Diskurs in einen umfassenderen Zusammenhang bringt. Diese sich seit dem 16. Jahrhundert herausbildende Lebensweise im globalen Norden beruht darauf, sich weltweit Natur und Arbeitskraft zunutze zu machen und die dabei anfallenden sozialen und ökologischen Kosten zu externalisieren.
Unter dem Gesichtspunkt der STÖRUNG betrachtet bedeutet das, die STÖRENDEN Eingriffe anderswo zu perpetuieren und zu nutzen, die zugrunde liegende ZerSTÖRUNG auszublenden, aber reaktive STÖRUNGEN möglichst abzuwehren, um die notwendige Exklusivität dieser Lebensform zu erhalten. Die aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen.
Brand/Wissen verweisen darauf, dass die gegenwärtige kapitalistische Globalisierung auf einem neuen Kompromiss zwischen Eliten und Subalternen – besonders den Mittelklassen – beruht; einhergehend mit einer weiteren Vertiefung der imperialen Lebensweise mit ihren destruktiven Konsum- und Produktionsbedingungen.
Diese Analyse und diese Begrifflichkeit stellen auch Instrumente für ein gegenwärtiges und zukünftiges zivilgesellschaftliches Handeln in einer Zeit der politischen Substanzlosigkeit dar.
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Univ.-Prof. Dr. Ulrich Brand (Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien) hält am 12. März 2018, um 19 Uhr einen Vortrag „Zur imperialen Lebensweise“.
Am Podium diskutieren anschließend mit ihm: Dr.in Karin Fischer (Leiterin der Abteilung für Politik und Entwicklungsforschung, Johannes Kepler Universität, Linz), Mag. Sepp Wall-Strasser (Verband Gewerkschaftlicher Bildung im ÖGB, Linz)
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- Brand, Ulrich / Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, oekom Verlag, 4. Auflage, 2017
Harald Wildfellner
Soziologe, 1987-1990 tätig bei LinzKultur (Stadtteilarbeit und Sonderprojekte) und von 1990-2017 in der Erwachsenenbildung tätig (Leiter Sozialwissenschaftlicher Fachbereich) sowie 2004-2018 Geschäftsführer des Vereins Medienwerkstatt Linz; gegenwärtig Vorsitzender des Vereins IAE – „Institut für Angewandte Entwicklungspolitik“