Gedanken zum Schwerpunkt Verschwinden
Verschwinden ist ein aktueller wenngleich zeitloser Schwerpunkt. Einerseits definiert er sich wenn durch subjektive Wahrnehmungen, wenn Mitmenschen uns ungefragt in öffentlichen Verkehrsmitteln etwa damit konfrontieren, dass ihrem Empfinden nach soviel verschwindet, und vor allem das Gute (Schöne, Österreichische, Adrette, Fleissige, Brave … ) sowieso längst verschwunden sei. Oder wir an uns selbst wahrnehmen, dass wir täglich ein Stück mehr verschwinden, uns entfernen von der Person, die wir gerade noch waren. Gleichzeitig ist es ein Fakten basierter Schwerpunkt, denn es verschwinden täglich Tier- und Pflanzenarten von dieser Erde oder Sprachen. Vor allem aber Menschen. Sie verschwinden etwa auf der Flucht vor Krieg und Hunger. In den Hauptstädten, an den Küsten, in Bordellen, in Fabriken, im Meer. Oder innerhalb kürzester Zeit in kaum fassbar großer Zahl: 27.000 minderjährige Flüchtlinge seien 2016 in Italien verschwunden, las ich im Mai 2017 in einem – angesichts der horrend großen Zahl viel zu kurzen – Artikel in der Tageszeitung der Standard. Andererseits geben wir Luxuswesen in Mitteleuropa uns immer häufiger der Sehnsucht nach Verschwinden hin, es wird ja alles so viel – na dann – verschwinden wir doch einfach. Nicht tot sein, nein, den Luxus des Verschwindens inklusive Wiederkehr hätten wir ganz gern. Hin und her gerissen zwischen Präsenz und Absenz, Verschwinden um umso strahlender wieder zu erscheinen. Während wir uns völlig freiwillig auf diversen social media Plattformen ständiger Präsenz hingeben, sind nie ganz da und nie ganz weg. Stecken in einem Tunnel des Verschwindens fest. Zögern in Kosmetikstudios und Arztpraxen unser eigenes Verschwinden möglichst lang hinaus, bis wir womöglioch gar nicht mehr verschwinden können. Friedhofsverwalter erzählen fast kuriose Geschihten davon, wie lange es mittlerweile braucht, bis unsere Toten verrotten.
Jean Baudrillard verwendet in seinem posthum 2008 erschienen Essay Warum ist nicht alles schon verschwunden? das Bild einer ewigen Bildrückkoppelung, in der wir gefangen sind – es sei das Bild der Subjektivität am Ende der Welt, aus der das Subjekt als solches schon verschwunden ist, da es mit nichts mehr in Verbindung steht. Dem Subjekt steht nichts mehr gegenüber – unsere größten Gegner bedrohen uns nur noch mit ihrem Verschwinden.
Verschwinden also ungeheuer aufgeladen mit unterschiedlichsten Bedeutungen, Definitionen und auch Emotionen, etc. Und natürlich ist es ein politischer Begriff: wir leben aktuell in einer Zeit des Umbruchs, des Wandels – vieles verschwindet, was unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten bestimmt und geprägt hat – nicht alles werde ich vermissen: dass patriarchale Strukturen zunehmend verschwinden halte ich persönlich sogar für außerordentlich positiv. Aber, wir beobachten auch das Verschwinden von Demokratie, Sozialpartnerschaft, Empathie, zivilgesellschaftlichen Errungenschaften und vielem mehr – und bleiben seltsam ruhig dabei, wie ich finde.
Willkommen also im Verschwinden! Macht es euch bequem und beobachtet aufmerksam, was verschwindet, macht euch Gedanken darüber, warum es verschwindet und ob es nicht doch bei manchen Dingen hoch an der Zeit wäre, sich zu erheben um es vor dem Verschwinden zu retten. In jedem Fall aber: Bleibt! Verschwindet nicht!