„Kunst ist Grundlage einer freien Gesellschaft und für alle in gleichem Maße da.“ schreibt Stella Rollig, Generaldirektorin des Belvedere im aktuellen Newsletter ihres Hauses. Ein Satz, der hin führt auf die Perspektive des Publikums und gleichzeitig auffordert, fast ermahnt. Kunst ist für alle in gleichem Maße da – Kunst ist demnach demokratisch und will in demokratischer, aufrechter Haltung betrachtet, erkundet, begriffen und besprochen werden. Wenn wir dem Jahr 2020 also unbedingt Lehren abringen wollen, dann könnte diese Erkenntnis eine davon sein: Menschen wollen Kunst, sie brauchen Kunst, Demokratie braucht Kunst und Kunst braucht Demokratie. Kunst fehlt, wenn sie nicht sichtbar, nicht vorhanden ist, und das Publikum ist gleichermaßen aufgerufen wie eingeladen, sie einzufordern. Ihrem Recht auf Kunst, die „für alle in gleichem Maße“ da ist, Ausdruck zu verleihen. Das Publikum muss sich als Verbündete jener begreifen, die für das Vorhandensein und die Sichtbarkeit von Kunst Sorge tragen: Künstlerinnen, Vermittlern, Galeristinnen, Ausstellungsmachern, Kulturmanagerinnen und so fort. Das Publikum darf nicht wegsehen, wenn die ökonomischen Grundlagen derer, die Kunst produzieren und zur Verfügung stellen können, gefährdet sind. Das Publikum muss gemeinsam mit ihnen aufstehen und dafür einstehen. Das Publikum ist eine politische Größe und muss sich als solche begreifen, das Publikum muss fordern.
Wann haben Publikum und Kunst eigentlich verlernt, Forderungen zu stellen?
Für wie selbstverständlich wir doch alle nehmen, wenn Tourismusbetriebe, Seilbahnen, Banken ihr Recht einfordern, subventioniert und – wenn gar nichts mehr geht – gerettet zu werden. Und wie selbstverständlich die Protagonisten dieser Branchen ihre Forderung gegenüber der Politik erheben. Wunderbar muss das sein, als Seilbahnchef zum Beispiel sich hinstellen zu können und eindeutig und klar, mit lauter Stimme in einer Nachrichtensendung eine Forderung zu erheben und zu wissen – die Chancen stehen nicht schlecht, dass die am nächsten Tag erfüllt ist.
Wann hat die Kunst verlernt, eben diese klaren Sätze zu sprechen, unaufgeregt, von Selbstbewusstsein geprägt, gleichermaßen höflich wie unnachgiebig in der Stimme:
- es braucht sofort wirksame Hilfsfonds, deren Kriterien Ansuchende nicht zu Almosenempfängern macht
- Museen, Veranstaltungshäuser und Theater müssen aufsperren dürfen, wenn sie die nötigen Abstandsregeln einhalten können
- es braucht eine Kulturministerin, die sich als Lobbyistin der Kultur versteht, es braucht einen Kunststaatssekretär, der sich als Lobbyist der Künstlerinnen versteht, es braucht Kulturreferentinnen, die sich als Lobbyisten von Kunst- und Kulturarbeitenden verstehen
- es braucht neue Förderrichtlinien, die sich an den tatsächlichen Arbeitsbedingungen orientieren, also Förderung von Struktur/Prozess/Scheitern/Experiment und weniger Outputfixiertheit
- Nur so als Beispiel. Viele haben Forderungen wie diese in den letzten Monaten zwar erhoben, Wenige wurden gehört. Die Kunst war zwar für alle in gleichem Maße da, nicht Alle aber waren für die Kunst hingegen in gleichem Maße da. Kunst wurde letztgereiht, weit hinter Seilbahnen.
Das sind Erkenntnisse, mit denen wir als Kultur- und Kunstarbeitende nun arbeiten müssen, Positionierungen, die für die kommende Zeit wichtig sein werden, wenn es darum geht, ob das Publikum, ob die Künstlerinnen und Kulturarbeitenden noch für Politiker da zu sein bereit sind, die sich in einer Zeit der Krise so eindeutig gegen die Kunst positioniert haben.
Hilfsfonds, für die man sich bis auf die Knochen quasi ausziehen muss, um überhaupt einreichen zu dürfen, kann nicht dem Selbstverständnis eines Kulturlandes entsprechen, Kunst und Kultur ebenso wie die staatlichen Agenturen Bildung, Soziales und Gesundheit fast vollständig zu ökonomisieren kann nicht dem Selbstverständnis eines demokratischen Landes entsprechen.
Die Liste der Versäumnisse wäre eine allzu lange, und ich will gar nicht daran denken, was auf uns zu kommt, wenn nun nach der Krise das durch die Krise politisch legitimierte Sparen an der Reihe ist. O, hochverehrtes Publikum, sag mal: bist Du wirklich so dumm? fragte Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger schon 1931 [An das Publikum, Frankfurt am Main, 2006, S. 235]. Liebes Publikum, ich weiss, Du bist nicht so dumm, drum darf ich bitten – solidarisier Dich, steh auf, fordere!