Wie es sich anfühlt, von heute auf morgen aus der Mitte einer Familie, einer Gruppe, einer Gesellschaft gerissen zu werden, davon können flüchtende Menschen ziemlich genau berichten. Sie werden nur selten danach gefragt, vielleicht auch deshalb, weil wir uns einfach nicht vorstellen können, dass viele Flüchtende bis vor kurzem ein Leben wie wir führten. Mohamad Alhasan, 24 Jahre jung, ist ein Geflüchteter, dem der Alltag zur Lebensgefahr wurde. Der Weg zwischen der Stadt Idlib, wo seine Familie lebt und Aleppo, wo Mohamad Medizintechnik studiert, wurde trotz der geringen Distanz von 50 Kilometern aufgrund der ständigen Kampfhandlungen und Bombenangriffe auf der Straße und aus der Luft zu gefährlich und unüberwindbar. Seit Mai 2015 lebt Mohamad als Asylwerber in Linz, auf der Suche nach einem normalen Leben und den Strategien dorthin. Eine davon war, innerhalb kürzester Zeit Deutsch zu lernen. Mohamad hat sich die Zeit genommen, uns ein ausführliches Interview über seine Situation für das aktuelle gfk Magazin zum Schwerpunkt MITTE zu geben, Im Magazin mussten wir das Interview leider etwas kürzen. Hier finden Sie nun die ungekürzte Fassung: Interview Mohamad Alhasan
Fotos: Reinhard Winkler / 2016
…ganz normale Menschen auf der Suche nach Sicherheit…
INTERVIEW: WILTRUD HACKL
Mohamad, wie ist dein Leben bis vor Kurzem abgelaufen?
Ich war Student und habe ein ganz normales Leben geführt. Ebenso wie meine Familie und meine Freunde. Unsere Ziele waren die anderer Studierender: das Studium zu beenden, Arbeit zu finden. Syrien war ein grundsätzlich modernes Land, wir hatten alles, wir haben, auch wenn wir nicht reich waren, nicht gelitten. Politisch betrachtet war eine Revolution aber unbedingt notwendig: Al-Assad ist sehr narzisstisch, es gibt nur eine Partei in Syrien, das ist diktatorisch. Und zu Beginn hat alles gut ausgesehen, aber die Entwicklung ist in eine völlig falsche Richtung gelaufen. Und so gibt es neben den echten Freiheitskämpfern plötzlich viele Kampftruppen ohne politische Ziele. Es herrscht Krieg. Und der Krieg hat alles zerstört. Jeder Tag ist von Unsicherheit geprägt, wir wussten wir nicht ob wir ihn überleben. Auch meine Familie ist nach wie vor in Lebensgefahr. So viele Kinder haben Durst und Hunger – vor dem Krieg war das unvorstellbar.
Wie bist du aufgewachsen?
Ich war ein sehr guter Schüler, bin ganz normal zur Schule gegangen. Bildung ist wichtig für meine Eltern, ich habe 8 Schwestern und einen Bruder und fast alle haben einen Universitätsabschluss. Als der Krieg ausbrach, war plötzlich alles anders – ich verlor Freunde, ich verlor meine Sicherheit und meine Perspektiven. Die ersten Monaten in Österreich waren auch von dieser Angst und Unsicherheit geprägt und meinen Erinnerungen – ich konnte nicht schlafen, hatte immer noch Angst vor Bomben und vor den die Bildern im Kopf.
Sind diese Bilder mittlerweile verschwunden?
Es wird besser. Ich habe Freunde gefunden, die mich an Syrien vor dem Krieg erinnern, auch österreichische Freunde. Ich habe langsam das Gefühl, dass ich hier ein normales Leben führen kann.
Du hast die Sprache sehr schnell gelernt, wie hast du das geschafft?
Ich habe die ersten drei Monate ausschließlich selbst gelernt – in erster Linie via Facebook, dann mit Kursen und Hilfe von österreichischen Freunden. Zurzeit besuche ich einen Deutschkurs an der Pädagogischen Hochschule.
War es schwer für dich herauszufinden, was zu tun ist, um „dazuzugehören“?
Nein, denn die Unterschiede sind für mich als urbanen Menschen nicht groß. Wenn jemand aus einem syrischen Dorf kommt, dann ist die Umstellung vielleicht schwieriger. Aber das hat nichts mit Syrien, Österreich oder Religion zu tun. Die Kultur und die Umgangsformen eines gebildeten syrischen Menschen sind die eines gebildeten österreichischen Menschen, da sehe ich kaum Unterschiede. Ich glaube darum fällt es mir leicht, mich anzupassen, ich bin die Sitten und Gebräuche hier von zu Hause auch gewöhnt.
Was war neu für dich in Österreich?
Zum Beispiel, dass es völlig normal ist, offen über Politik zu reden. Ich kannte das nicht, wenn wir in Syrien so redeten, würde man uns zwei Tage später verhaften. Wir sprechen nicht über Politik, wir haben Angst. Als eine österreichische Freundin etwas über die Politik in Syrien wissen wollte, konnte ich nichts erzählen, ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen. Kritik zu üben, die eigene Meinung zu sagen, das war neu für mich.
In welchen Situationen fühlst du dich fremd?
Das war vor allem zu Beginn in Österreich, als ich nur Englisch und Arabisch sprach. Ich lernte also rasch deutsch, und dachte, damit sei das Fremdsein erledigt. Dann merkte ich allerdings, dass manche Menschen Angst vor mir haben und konnte mir nicht erklären, warum (lacht): schau, ich sehe aus wie ihr, bin normal groß, eher sogar zu klein (lacht) und bin ganz normal angezogen. Wovor haben die Menschen Angst?
Hast du sie danach gefragt?
Das würde ich gerne, aber es gelingt nicht. In der Silvesternacht etwa hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis: Ich fand ein Handy und wollte es zur nächsten Polizeidienststelle bringen, wusste aber nicht, wo die war. Als ich ein Ehepaar fragen wollte, streckte der Mann abwehrend seinen Arm aus und sagte: „wir haben kein Geld, wir haben kein Geld!“ Das war ein Schock für mich und eine Beleidigung, denn ich habe noch nie in meinem Leben jemanden um Geld gebeten. Was ich hier in Österreich habe, reicht für mich, denn in erster Linie habe ich in Europa Sicherheit gesucht, nicht Geld. Warum meinen die Menschen, dass ich Geld möchte?
Schließlich habe ich die Polizei gefunden, und auch dort hatte ich das Gefühl, dass die Beamten Angst vor mir haben, als ich sagte ich sei Flüchtling. Ich frage mich, welchen Eindruck haben eigentlich die Beamten von uns? Wir sind keine Betrüger, Diebe oder Lügner. Wir sind ganz normale Menschen auf der Suche nach Sicherheit.
Sind solche Erfahrungen eher die Ausnahme?
Es gibt, das muss ich betonen, auf der anderen Seite so viele Menschen, die einfach helfen, ohne etwas dafür zu wollen oder zu bekommen. Ich wollte einen Intensiv Deutschkurs machen, dafür hätte aber das Geld, das ich monatlich erhalte, nicht gereicht. Eine der Frauen, die ehrenamtlich bei uns im Haus helfen, hat diesen Kurs für mich bezahlt. Einfach so…! Es war unglaublich.
Welche Wünsche hast du?
Arbeiten zu dürfen, das ist ein wirklich großer Wunsch. Und weiterstudieren, ich möchte gerne meinen Master in Medizintechnik machen. Allerdings habe ich leider seit acht Monaten nichts zu tun als zu warten. Ich verstehe dieses System nicht, in dem ich fürs Nichtstun Geld bekomme, obwohl ich doch arbeiten könnte.