Elisabeth Rosenmayr war Pressereferentin der Frauenministerinnen Johanna Dohnal und Dr.in Helga Konrad bevor sie fast 20 Jahre für EXIT-sozial in Linz gearbeitet hat. Sie engagiert sich im Vorstand des autonomen Frauenzentrums Linz und von EXIT-sozial. Für ihr feministisches Engagement wurde sie zur Konsulentin für Soziales des Landes OÖ ernannt und mit der Humanitätsmedaille der Stadt Linz ausgezeichnet. Für das gfk Magazin hat sie sich mit unterschiedlichen Zugängen zu politischen Zu- und Umständen in Österreich auseinandergesetzt:
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Da sitze ich nun mit einem Knäuel aus Gedanken und Gefühlen – doch nicht so anders als in den letzten Tagen der vielen Jahre meines Lebens vor 2020. Wie immer ist es nicht ganz einfach und doch notwendig, eine Idee zur Auflösung zu finden. Und wie immer hilft die Erfahrung, auch 2020.
Aus Erfahrung weiß ich: die Fäden sind verknüpft oder auch nicht, manche sind fest, manche dehnbar und weich, manche sind hell und andere dunkel, viele sind von anderen gesponnen und von mir in meinem Knäuel aufgerollt. Ich zupfe an den losen Fäden und versuche, das Knäuel nicht enger zu machen.
Ich zupfe an Gleichzeitigkeit verknüpft mit Interdependenz. Wie wird sich die (banale) Erfahrung auswirken, dass viele Menschen zur selben Zeit ganz Unterschiedliches erlebt haben, dass die einen sich zuhause gelangweilt haben, während andere Homeschooling organisiert oder 16 Stunden täglich gearbeitet haben? Wird die Erfahrung nachhaltig sein, dass Maßnahmen, die nützen, gleichzeitig schaden? Wie kann ein Verständnis für gesellschaftliche Komplexität, für soziale Zusammenhänge und Abhängigkeiten verbreitet werden? Wie können Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeiten ertragen werden? Werden die Erlebnisse zu Erfahrungen reifen?
Ich denke daran, wie unbeliebt in den letzten Monaten Fragen geworden sind, obwohl – oder doch eher weil – die Antworten oft ungesichert und unklar waren. Unsicherheit tolerieren, Nichtwissen verantwortungsbewusst aushalten und gleichzeitig nach Wissen suchen, moralisiere ich. „Philosophieren“ hat der Bundeskanzler dieses Vorgehen genannt, das jetzt nicht angebracht sei.
Und dabei erinnere ich mich, dass Armin Thurnher über „jenes politisch Neue“ geschrieben hat, „das für nichts steht“ (Falter 50/20). Dabei hatte Thurnhers Bemerkung gar nichts mit Politik in Zeiten der aktuellen Pandemie zu tun – er hatte sie über den (noch nicht rechtskräftig) verurteilten Karl-Heinz Grasser gemacht, aber ich verknüpfe sie mit meiner Wahrnehmung einer grassierenden Politik, die hinter forciertem Auftreten, markanten Sagern und hohem Tempo verborgen wird.
Oder ist es mehr und anders: steht dieses politisch Neue doch für etwas? Steht es nicht nur für die Lust am starken Auftritt, für die (Selbst-)Befriedigung durch markante Sager, für „Speed (that) kills“ (Andreas Khol, 2014) oder eine „geile Politik“ (Sebastian Kurz, 2011)? Ist vielmehr die selbstverliebte Inszenierung das eigentliche Ziel dieses politisch Neuen? „Können die nichts mehr ohne Inszenierung?“ fragt Hans Rauscher nach der Impfpremiere am 29.12.20 in Der Standard.
Wenn dem so ist, wenn ein selbstgefälliger, geiler Umgang mit den Strukturfesten einer Demokratie, dem Parlamentarismus und der Rechtstaatlichkeit Ausdruck jenes politisch Neuen und seiner Proponent*innen ist, dann müssen Bürger*innen, die weniger cool sind, engagiert und immer wieder die Notwendigkeit „juristischer Spitzfindigkeiten“ (Sebastian Kurz, April 2020) und geduldiger parlamentarischer Prozesse auch während „Nacht-und-Nebel“ (Sebastian Kurz, November 2020) betonen.
Sie, die altmodisch ernsthaften, weniger feschen – und damit meine ich auch mich – müssen bedenken und schreiben und laut aussprechen, dass Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit unverzichtbar sind für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft, in der alle Menschen gut und sicher leben können.
Ich ziehe am Feminismusfaden und denke an Johanna Dohnals Paradigma: „Ich denke, es ist Zeit daran zu erinnern: Die Vision des Feminismus ist nicht eine ‚weibliche Zukunft‘. Es ist eine menschliche Zukunft.“
Jetzt bekomme ich einen Gefühlsfaden zu fassen. Mein Aufruf zum Engagement trifft auf meine Appellmüdigkeit. Die vielen Aufforderungen in diesem Jahr haben mich erschöpft. Ich soll Händewaschen, Abstandhalten, Kontakthalten, mich um einen Babyelefanten kümmern, ich soll Spazierengehen, an die Großeltern denken und den heimischen Handel unterstützen… was soll ich noch alles? Wie komme ich heraus aus der Regression, in die ich mich geflüchtet habe, um all den Geboten zu folgen? Ich lese den Essay von Alexander Emanuely „Eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit“, erschienen in dem Band Notfall: Covid-19. Texte zu und in der Pandemie (hg. von Reinhard Hosch und Helmut A. Niederle, Wien 2020) und nehme mir zu Herzen womit Emanuely schließt: 1940 hat Walter Benjamin empfohlen, „die Jetztzeit mit Vergangenheit zu laden“. Das hilft.
Die Ladung der Jetztzeit mit Vergangenheit öffnet den Blick in die Zukunft, ins Danach. Ich schaue in die frauen*politische Arbeit der vergangenen Jahre und Jahrzehnte und sehe die aktuellen Lücken und Trends der Gleichstellungspolitik, die Petra Stuiber in ihrem Kommentar „Vollbremsung bei der Gleichstellung“ (Der Standard, 20.11.2020) aufgelistet hat: „Ein massiver Rückzug der Frauen ins Private setzte ein. Plötzlich war frau wieder hauptberuflich Hausfrau, Mutter – und zusätzlich noch Lehrerin. Glücklich all jene, die dazu noch Homeoffice machen durften oder als Schlüsselkräfte im Krankenhaus, Pflegebereich und Handel weiter außer Haus tätig waren. Denn immerhin haben sie ihren Job behalten – was vielen anderen Frauen nicht gelang. Hier rächt sich die hohe Teilzeitbeschäftigungsrate der Frauen in Österreich… Zusätzlich litten Frauen… auch finanziell unter der Kurzarbeit ihrer Partner… Dazu kamen Nebeneffekte wie erhöhtes Gesundheitsrisiko durch verschobene Untersuchungen und geschlossene Facharztordinationen sowie Enttäuschungen finanzieller Natur… Dazu gesellen sich atmosphärische Kleinigkeiten: Männer bilden das Corona-Quartett der Regierung, Männer äußern sich besorgt zur wirtschaftlichen Lage… die ÖVP-Frauen und die ÖVP-Arbeitsministerin würden gerne wissen, warum Frauen abtreiben…“
Wer wird die unübersehbaren Schwachstellen beheben? Wer wird die frauen*politischen Langzeitprojekte fortsetzen? Wer wird die Geduld auf- und die fachliche Kompetenz einbringen, die für die politische Alltagsarbeit notwendig sind? Wer wird sich für unspektakuläre Vernetzung und Zusammenarbeit stark machen, die fernab von öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung die Grundlage für ein tragfähiges Sozialsystem ist? Wer wird den Wert von Kritik und Diskurs, von Partizipation und Inklusion hochhalten?
Wann immer DANACH sein wird – nach der Pandemie, nach dem Attentat in Wien am 2.11.20, nach dem Winter in den Flüchtlingslagern auf Lesbos – es wird gleichzeitig immer DAVOR sein.